Arbeitsschutz, Krisenmanagement

Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen

Wie Sie die psychische Gesundheit Ihrer Mitarbeiter fördern

17 Minuten19.12.2019

Psychische Belastungen rücken in der heutigen Zeit zunehmend in den Fokus. Mehr denn je sind unsere Gesellschaft und unsere Arbeitswelt einem enormen psychischen Druck ausgesetzt. Und genau wie Ausprägungen körperlicher Belastung bei der Arbeit ist auch die psychische Belastung ein wesentlicher Gesundheitsaspekt. Stetiger Wandel, immer schnellere technologische Entwicklungen, steigende Arbeitsintensität und Umgebungsfaktoren wie Lärm sind nur einige Belastungen, die Mitarbeiter auf Dauer krank machen können. Mit einer Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen beugen Sie diesen Risiken vor und schützen Ihre Mitarbeiter von Anfang an.

Der folgende Beitrag veranschaulicht die Relevanz der Gefährdungsbeurteilung von psychischen Belastungen am Arbeitsplatz und zeigt auf, welche Schritte es dabei zu beachten gilt.

Psychische Belastungen erkennen und bewusst wahrnehmen

Im Gegensatz zu klassischen körperlichen Gefährdungen – wie beispielsweise mechanischen, elektrischen oder chemischen Gefährdungen – ist es bei psychischen Belastungen mitunter schwierig, eine saubere Abgrenzung zwischen privaten und beruflichen Einflüssen vorzunehmen. Private Ereignisse, z.B. der Tod eines Familienmitglieds oder die Trennung vom Partner, haben auch einen Einfluss auf die berufliche Welt. Doch die Stigmatisierung psychischer Erkrankungen hat in den vergangenen beiden Jahrzehnten stark abgenommen, sodass Menschen offener darüber sprechen. Das vereinfacht eine Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen wesentlich. Nicht zuletzt durch eine Gesetzesanpassung gewinnt die Thematik immer mehr an Relevanz.

Seit Oktober 2013 sind Gefährdungen durch psychische Belastungen im Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) explizit benannt.

§ 5 Abs. 3 Nr. 6 ArbSchG:

„Eine Gefährdung kann sich insbesondere ergeben durch psychische Belastungen bei der Arbeit.“

Durch eine Gefährdungsbeurteilung erkennen und beurteilen Sie, welche Faktoren eine psychische Belastung für die Mitarbeiter bei ihrer Tätigkeit darstellen. Zunächst müssen Sie also herausfinden, ob eine psychische Belastung oder Beanspruchung vorliegt.

Definitionen

Psychische Belastung nach DIN EN ISO 10075-1 (1a):

"Psychische Belastung ist die Gesamtheit aller erfassbaren Einflüsse, die von außen auf den Menschen zukommen und psychisch auf ihn einwirken."

Psychische Beanspruchung nach DIN EN ISO 10075-1:

„Psychische Beanspruchung ist die unmittelbare (nicht langfristige) Auswirkung der psychischen Belastung im Individuum in Abhängigkeit von seinen
jeweiligen überdauernden und augenblicklichen Voraussetzungen, einschließlich der individuellen Bewältigungsstrategien.“

Laut der Definition für psychische Belastungen handelt es sich dabei zunächst um einen neutralen Begriff. Erst bei der Beanspruchung stellt sich die Frage, ob diese Auswirkung positiv oder negativ ist.

Die beiden Begriffe Belastung und Beanspruchung grenzen sich voneinander ab, wie dieses Beispiel verdeutlicht: Eine Person, die sportlich aktiv ist, belastet ihre Muskeln. Diese Belastung ist zunächst weder positiv noch negativ bewertet. Erst bei der Beanspruchung wird deutlich, ob es sich dabei um eine positiv stimulierende Aktivität (positive Beanspruchung) oder um eine negative Beanspruchung in Form einer Über- oder Unterforderung handelt. Dieses Beispiel können Sie im übertragenen Sinne auch auf die Bewertung der psychischen Belastung bzw. Beanspruchung anwenden.

Trotz der Schwierigkeit, psychische Belastungen durch private Einflüsse auszublenden: In der Gefährdungsbeurteilung ermitteln und bewerten Sie ausschließlich psychische Belastungen, die am Arbeitsplatz entstehen.

Als psychische Belastungsfaktoren gelten unterschiedliche Aspekte des Berufslebens. Es kann sich dabei um Arbeitsbedingungen bzw. -situationen, die in jedem Betrieb vorkommen, handeln, wie z. B.:

  • Zeit- und Termindruck

  • monotone Aufgaben

  • unklare bzw. widersprüchliche Arbeitsanweisungen

  • Unter- und Überforderung

  • ständige Erreichbarkeit

  • störende Geräusche

  • Notfälle wie Unfälle oder Gewalt am Arbeitsplatz

  • Mobbing

  • destruktiver Führungsstil

Die meisten Faktoren sind, je nach Ausprägung und wenn sie einzeln auftreten, gut beherrschbar. Sobald sich aber mehrere Belastungsfaktoren häufen oder sich ein Faktor verstärkt, können Überlastungsreaktionen auftreten. Die Folgen sind vielfältig und können sich zum Beispiel in Schlaf- und Angststörungen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes sowie einem Erschöpfungszustand (Burnout) oder einer Depression äußern. Neben Demotivation oder innerer Kündigung können diese Folgen zu längerer oder sogar dauerhafter Arbeitsunfähigkeit führen.

Eine besondere Rolle kommt hierbei den jeweils verantwortlichen Führungskräften zu. Sie sollten selbstverständlich ein offenes Ohr für die Sorgen, Ängste und Nöte, die ihre Mitarbeiter eventuell belasten, haben. Es ist wichtig, für folgende Punkte Verständnis zu entwickeln:

  1. Psychosoziale Gefährdungsfaktoren sind nicht unmittelbar messbar und lassen sich darum oft schwer identifizieren.

  2. Für diese Faktoren gibt es weder Auslöseschwellen noch Arbeitsplatzgrenzwerte.

  3. Belastungen am Arbeitsplatz, die sich auf die Psyche auswirken, sind oft komplex, da neben den betrieblichen mitunter auch private, persönliche Faktoren eine Rolle spielen.

  4. Psychische Faktoren haben auf jeden Menschen einen individuellen Einfluss. Was ein Mensch mit hoher Resilienz (psychischer Widerstandsfähigkeit) gut „wegsteckt“, kann bei einem anderen zu hoher Belastung führen.

Die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen durchführen

In der Gefährdungsbeurteilung einer psychischen Belastung erfassen Sie die psychischen Gefährdungen durch die Arbeit auf Unternehmensebene und beseitigen und minimieren so die aus den Tätigkeiten resultierenden Belastungen.

Gefährdungsbeurteilung vorbereiten

Zur Vorbereitung der Gefährdungsbeurteilung bilden Sie ein Team von Arbeitsschutzexperten und Verantwortlichen (Lenkungskreis). Binden Sie den Betriebs-/Personalrat ihren Rechten entsprechend ein und beachten Sie, dass deren Vertreter dem Lenkungskreis angehören. Stellen Sie sich dabei folgende Fragen:

Gefährdungsbeurteilung vorbereiten

  • Welche Methode / welches Verfahren wenden Sie bei der Gefährdungsbeurteilung an? (hilfreich ist hierbei eine Checkliste für Gefährdungsbeurteilungen)

  • Wer führt die Befragung durch?

  • Welche Erwartungen kommunizieren Sie gegenüber der Belegschaft?

  • Wie werten Sie die Befragung aus?

  • Wie setzen Sie die Ergebnisse der Befragung in Maßnahmen um?

  • Wer beschließt die Maßnahmen und wer setzt sie in welchem zeitlichen Rahmen um?

  • Wie dokumentieren Sie den Prozess?

  • Wie überprüfen Sie die Wirksamkeit der Maßnahmen?

  • In welchem Intervall findet eine Verifizierung der Ergebnisse statt?

Führen Sie die Befragung der Mitarbeiter möglichst mittels eines Fragebogens durch. Hier stehen Ihnen mehrere, wissenschaftlich fundierte Fragebögen zur Auswahl. Einen eigenen Fragebogen zu erstellen ist zwar verlockend, weil Sie ihn auf Ihr Unternehmen optimiert anpassen können, allerdings ist die Entwicklung sehr komplex und setzt viel Fachwissen voraus. Nutzen Sie die zahlreich vorhandenen Angebote zur Mitarbeiterbefragung und Datenauswertung.

Hinweis

Es ist schwer, die privaten Belastungen der Mitarbeiter abzugrenzen. Deshalb geben Sie im Vorfeld den Hinweis, dass die Fragen ausschließlich hinsichtlich der Belastungen im Betrieb beantwortet werden sollen.

Zudem sind die Antworten der Mitarbeiter immer subjektiv. Daher ist eine statistische Auswertung der Fragebögen notwendig, um eine gewisse Objektivität zu erreichen. Achten Sie darauf, dass für die Auswertung genügend ausgefüllte Fragebögen vorliegen, damit die Objektivität gewährleistet ist.

Überlegen Sie, welche Gruppen von befragten Mitarbeitern Sie bilden können, z.B. Produktions- und Büromitarbeiter. Dadurch erhöht sich der Aussagewert der Ergebnisse der Fragebögen.

Als Auswertung bekommen Sie in der Regel Bewertungen folgender Merkmalbereiche und Belastungsfaktoren in Form einer Statistik grafisch dargestellt:

Merkmalbereiche

Belastungsfaktoren

Arbeitsinhalt / Arbeitsaufgabe

- Vollständigkeit der Aufgabe
- Handlungsspielraum
- Variabilität (Abwechslungsreichtum)
- Information / Informationsangebot
- Verantwortung
- Qualifikation
- emotionale Inanspruchnahme

Arbeitsorganisation

- Arbeitszeit
- Arbeitsablauf (Zeitdruck, hohe Arbeitsintensität, häufige Störungen / Unterbrechungen, hohe Taktbindung)
- Kommunikation / Kooperation

Soziale Beziehungen

- zu den Kollegen
- zu den Vorgesetzten

Arbeitsumgebung

- physikalische und chemische Faktoren
- physische Faktoren
- Arbeitsplatz- und Informationsgestaltung
- Arbeitsmittel

Neue Form der Arbeit

- zeitliche Flexibilisierung

Das Ergebnis der Befragung liegt vor – und nun?

  1. Besprechen Sie die Ergebnisse im Lenkungskreis. In dem Gremium entscheiden Sie, welche Problemfelder in welcher Reihenfolge bearbeitet werden.

  2. Je nach Größe des Unternehmens bietet es sich an, in einem oder mehreren moderierten Workshops die Ergebnisse zu bearbeiten.

  3. In den moderierten Workshops sollen Mitarbeiter, die Teil der Befragung waren, Maßnahmen zur Beseitigung bzw. Verbesserung der vorhandenen psychischen Belastungen vorschlagen.

  4. Informieren Sie die Belegschaft über die Ergebnisse der Befragung, am besten im Rahmen einer Betriebsversammlung. Motivieren Sie frühzeitig die Kollegen zur Mitarbeit in den Workshops.

Workshops organisieren und durchführen

Für die Moderation des Workshops bietet sich ein externer Experte an. Diese Maßnahme erhöht die Akzeptanz der Veranstaltungen bei Ihren Mitarbeitern. In den Workshops ist ein absolutes Vertrauensverhältnis unbedingt notwendig. Insbesondere bei dem Merkmalbereich „Soziale Beziehungen“ wäre die Anwesenheit einer Führungskraft kontraproduktiv. Die Workshops sollen eine offene und ehrliche Aussprache und Diskussion ermöglichen. Das Ziel der Workshops ist die Formulierung konkreter Vorschläge für Maßnahmen zur Beseitigung bzw. Reduzierung von psychischen Belastungen bei der Arbeit. Die Teilnehmer geben dabei keine Bewertung zu einzelnen Maßnahmen ab, sondern sammeln zunächst alle Vorschläge. Der Moderator stellt dann dem Lenkungskreis die Ergebnisse vor.

Maßnahmen ableiten und umsetzen

Der Lenkungskreis trifft eine erste Vorauswahl, welche Maßnahmen zur Umsetzung geeignet sind. Nicht alle Maßnahmen können zwangsläufig umgesetzt werden und gegebenfalls ist die Umsetzung nicht wirtschaftlich. Die letztendliche Auswahl trifft die oberste Leitung. Erläutern Sie den Workshopteilnehmern das Ergebnis und die Gründe, die zu der Auswahl geführt haben. Der Lenkungskreis erarbeitet dann einen Umsetzungsplan für die beschlossenen Maßnahmen. Der Plan muss mit der Benennung der Verantwortlichen durch die oberste Leitung genehmigt werden. Stellen Sie diesen Plan dann der gesamten Belegschaft vor, möglichst bei einer Betriebsversammlung. Die Umsetzung übernehmen üblicherweise die Vorgesetzten. Aufgaben können auch den Dienstleistungsabteilungen, wie Einkauf oder Personalabteilung, zufallen.

Für den nachhaltigen Erfolg bzw. die Akzeptanz des Prozesses ist es sinnvoll, dass Sie regelmäßig Zwischenergebnisse der Umsetzung an die Mitarbeiter kommunizieren.

Den Prozess dokumentieren

Die Protokolle der Sitzungen des Lenkungskreises dienen gleichzeitig der Dokumentation des ganzen Prozesses. Sie beinhalten auch die Ergebnisprotokolle der Workshops, wobei diese nur die festgelegten Maßnahmen umfassen. Die Aufzeichnungen aus den Workshops werden von einer vorher festgelegten Person vernichtet, um die Vertraulichkeit nicht zu gefährden.

Die Wirksamkeit der Maßnahmen prüfen

Nach der Umsetzung der Maßnahmen ist ein Monitoring und die Befragung von Mitarbeitern wichtig, um die Wirksamkeit der Maßnahmen zu kontrollieren. Der Lenkungskreis sammelt die Erkenntnisse und bewertet diese. Eine regelmäßige Berichterstattung an die oberste Leitung und die Informierung der Belegschaft über den Stand der Umsetzung und Wirksamkeit der Maßnahmen sind unbedingt notwendig. Sie sollten nicht nur die beschlossenen und umgesetzten Maßnahmen auf ihre Wirksamkeit prüfen, sondern den gesamten Prozess. Denn der Lenkungskreis ist dafür verantwortlich, der obersten Leitung ein Intervall zur Wiederholung der Gefährdungsbeurteilung vorzuschlagen.

Üblicherweise, je nach Größe und Anzahl der Problemfelder, wird die Gefährdungsbeurteilung der psychischen Belastungen alle zwei bis drei Jahre wiederholt. Zusätzlich ist eine Analyse des durchgeführten Prozesses relevant, um die Stärken und Schwächen aufzuzeigen und der obersten Leitung Vorschläge für Verbesserungen vorzulegen.

7 Schritte

der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung

Psychische und körperliche Belastungen vermeiden und die Gesundheit fördern

Die breit geführte Diskussion um psychische Belastungen vermittelt möglicherweise ein Bild, das die Arbeit per se als krankmachenden Faktor ansieht. Doch dieses Bild entspricht nicht der Realität. Arbeitsplätze, die über einen hohen Standard bei der Arbeitssicherheit, eine gute Gesundheitsförderung und ein angenehmes Betriebsklima verfügen, können erheblich zum körperlichen und geistigen Wohlbefinden der Beschäftigten beitragen.

Körperliches, geistiges und soziales Wohlbefinden sind die drei Faktoren, die die Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur Definition der Gesundheit anführt.

Da körperliche und psychische Belastungen eng mit der Arbeitswelt verbunden sind, sollten Sie eine entsprechende Gefährdungsbeurteilung umso ernster nehmen und Risiken minimieren. Denn körperlich und geistig fitte Mitarbeiter sind die Basis für Ihren Unternehmenserfolg.

Erfahren Sie im Video mehr über die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen

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